Freitag, 8. Juni 2018 – 17:45
tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft – UZA II, Rotunde, Seminarraum 2H 418, A – 1090 Wien
Vortrag im Rahmen des Workshops „Grenzen – Schwellen – Übergänge. Anschlüsse an Walter Benjamin“ am 8. Juni 2018 am tfm Wien.
“Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute”, schrieb Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz. Er beschrieb dabei eine Aufmerksamkeit, die nicht von Intentionalität geprägt ist. Wenn wir über Schwellen und Übergänge reden, dann sind wir in Raumzeiten, die ebenfalls nicht intentional bestimmt sind oder zumindest eine Lücke kennen, in der Intentionalität versagt. Schwellen legen sich als etwas, das nicht Übergang ist, zwischen das Innen und das Außen. Und wenn man einen Satz aus einer Sprache in eine andere übersetzt, dann gibt es einen Übergang, an dem jede Intentionalität versagt und Unbestimmtheit wirksam wird: Das andere Wort, die andere Art des Meinens ist nicht linear zu erreichen. Aufmerksamkeit ist kein Ergebnis einer Intention, sondern eher ist die Intention eine Folge der Aufmerksamkeit. Nicht das Ich ist aktiv, sondern etwas hat das Ich oder das Bewusstsein in einer bestimmten Weise aktiviert. Dies, was dort auftaucht als Objekt der Aufmerksamkeit, hat mit seinem Aufforderungscharakter schon gewirkt, bevor das Ich sich als Urheber der Aufmerksamkeit versteht. Von Gibsons “Ecology of visual perception”, von dem dieser Begriff der Aufforderung stammt, könnte ein Weg zu einer allgemeinen Ökologie der Aufmerksamkeit führen, in der es um szenische Zusammenhänge geht, in der viele zerstreute Aufmerksamkeiten zugleich wirken. Man kann dabei ruhig an den englischen Gebrauch des Wortes scenic denken und etwa ein holländisches Landschaftsgemälde aus dem 17. Jahrhundert vor Augen haben, das eine Welt in Kommunikation mit sich selbst zeigt (Maldiney); oder eine Stadtansicht aus dem Paris Baudelaires. Szenen sind Schwellen, weil in ihnen unbestimmt bleibt, was auftauchen wird, wenn man die Schwelle übertreten hat. Wie im Traum ist nicht klar, an welcher Stelle oder in welcher Figur das Ich seine zum Teil illusionäre Intentionalität finden wird. Deshalb prägte Freud ja auch den Begriff der gleichwebenden Aufmerksamkeit als Haltung des Analytikers. Und: Architektur und Film sind eben die Wahrnehmungszusammenhänge, in denen diese szenische Intensität der Schwellen im 20. Jahrhundert wirksam ist. Ob das noch heute so ist oder ob das Internet diese Ökologie der Aufmerksamkeit neu aufgemischt hat?
Ein Vortrag von Reinhold Görling
Er ist Professor für Medienwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Laufende Forschungsprojekte zu Ästhetik und Ökologie sowie zu Zeit in Videoinstallationen und im Slow Cinema. Gastprofessor am tfm – Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien im Sommersemester 2018 und im Wintersemester 2018/19. Zuletzt erschienen: Hrsg. mit Astrid Deuber-Mankowksy, Denkweisen des Spiels. Medienphilosophische Annäherungen, Wien/Berlin: Turia + Kant 2017; Szenen der Gewalt. Folter und Film von Rossellini bis Bigelow, Bielefeld: transcript 2014.