Alexander Kluge
Verbrechen. Gespräche mit Dr. Ulrike Sprenger, Prof. Dr. Joachim Kersten und Manfred Pichota.
Hg. v. Christian Schulte und Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8 2000. (= Facts & Fakes. Fernseh-Nachschriften; 1)
Facts & Fakes I
Man vergißt leicht, daß die Fixierung eines Sachverhalts (Tatsache, fact) ebenso auf Konvention beruht wie das Erfinden oder Erzählen (Fiktion, fake). Eine Welt voller Tatsachen setzt offene Horizonte voraus, wohin das Gefühl (die Hoffnung) sich flüchtet, das es unter den Tatsachen nicht aushält. Alle Sachlichkeit ist mit einem Horizont verknüpft, so wie bei Franz Kafka der Affe es an die Akademie berichtet: er spürt den Sog des Horizonts an seiner Ferse.
Die Mehrzahl der Horizonte unseres Planeten ist heute erschlossen. Die Abgrenzung zwischen facts und fakes wird deshalb unsicher. Zur Implosion hin, nach innen zu den Abgrenzungen hin, entsteht eine Zone, in der die Wirklichkeitscharaktere schwanken. Was ist, wenn wir Menschen zwischen zwei Universen oszillieren, ohne das zu merken, wenn dies die Dinge, die für die Quantenphysik gilt, doch offensichtlich tun: einen Moment sind sie wirklich, einen Moment unwirklich.
Aus dieser Szenerie entsteht der Druck nach einer stärkeren Konfrontation von facts und fakes. Die verwaltungsmäßige Trennlinie (z.B. zwischen den Abteilungen Journalismus und Dichtkunst) stellt niemanden von uns Eingeschlossenen zufrieden. Wir wollen etwas Authentisches erfahren, auch wenn es von jemand erzählt wird, der dieses Authentische erfinden muß, wenn es stimmen soll. Und wir möchten auf dem Grund der Erzählung etwas finden, das echt ist, einen Partikel Wirklichkeit. Die Trennlinie zwischen wirklich und unwirklich hat den Wächter verloren. Deshalb, entweder facts & fakes treten gemeinsam auf, oder man hat beides nicht zur Verfügung: weder Tatsachen noch Erzählung.
Zitat Alexander Kluge, S. 2
Information: Verlag Vorwerk 8