Gruber/Schulte (Hg.): Die Bauweise von Paradiesen

Klemens Gruber/Christian Schulte (Hg.)

Die Bauweise von Paradiesen. Für Alexander Kluge

Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Jg. 53 (2007), H. 1.

„Was ist das, abstrakt?“
fragt Alexander Kluge den Schauspieler Alfred Edel in der Rolle des Reklameforschers Gert Mückert. „Abstrakt“ antwortet der, während er Zeit zu gewinnen sucht und sich doch ein Lächeln angesichts des Schwierigkeitsgrads der Frage nicht verkneifen kann, „als abstrakt bezeichne ich Produkte oder Dienstleistungen, die von sich aus keine sinnliche Vorstellung vermitteln, kein Bild auslösen, auch keine Geschichte“.
Er wisse gar nicht, was ein Künstler sei, sagte Kluge vor vielen Jahren einmal in einem Interview. Vor allem wohl, um dem Missverständnis vorzubeugen, demzufolge Kunst immer noch als Emanation eines schöpferischen Ich begriffen wird. Kluges Selbstbeschreibungen fallen denn auch bei weitem nüchterner aus: Er sei eher ein literarischer Buchhalter, ein Kommentator vertrauenswürdiger Überlieferungen – die allerdings von Ovid bis Montaigne, von Robert Musil bis Heiner Müller reichen. Was wie eine Zurücknahme der eigenen Person, ihr Verschwinden im Off anmutet, ist vielmehr Ergebnis einer realistischen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Status des Autors. Für Kluge ist der Autor ein Sammler und Konstrukteur, dessen Phantasie sich an dem entzündet, „was andere schon getan haben“ (Adorno) und der seine Selbständigkeit darin gewinnt, dass er sich aus den Quellen das aneignet, was er braucht, um weiterarbeiten zu können: der Erzähler, Filmregisseur, Philosoph und Fernsehmacher als Autor, dem die unterschiedlichen Medien seiner Artikulation ebenso gleichbedeutend sind wie die Materialien, die er auf diesen Kanälen zirkulieren lässt: das Kantinengespräch steht neben Hölderlin, Technomusik neben der Oper. Nicht länger um Originalität geht es, sondern um die Organisation von Erfahrung mit den Mitteln einer transmedialen Versuchsanordnung.
Ein Archiv im Sinne Kluges ist weit mehr als die Summe seiner inventarisierten Einträge, es ist vor allem ein Raum der Kommunikation zwischen den Zeiten, ein Echoraum, in dem die Stimmen aus vergangenen Epochen nicht allein nachhallen, sondern vor allem gehört und der aktuellen Rede einverleibt werden. Dabei wendet sich die Schroffheit seiner Montage stets gegen die Überlieferung als Besitzstand, um die Vergangenheit in ihr Recht zu setzen, sich auf immer andere Weise in der Gegenwart zu Wort zu melden. Diese Form des Dialogs korrespondiert mit Kluges Utopie einer lebendigen Öffentlichkeit. Das Archiv ist identisch mit der Arbeitsweise: Es verändert sich mit jedem Arbeitsschritt. Jeder Mensch ist ein solches Archiv. Die Vorstellungs- und Ausdrucksvermögen des Archivwesens Mensch in Bewegung zu setzen und gegen den Glauben an die Fatalität des Geschichtsverlaufs in Stellung zu bringen, das wäre ein Ausgangspunkt für die Bauweise von Paradiesen.
Wien, Februar 2007 Christian Schulte, Klemens Gruber

Vorwort, S. 7

Information und Bestellmöglichkeit: Böhlau Verlag

Inhaltsverzeichnis

  • Vorwort
  • Ulrike Sprenger: Lebte die kleine Meerjungfrau wirklich? Facts und Fakes im Märchen
  • Rainer Stollmann: Die Erfahrung ist die Message. Notizen zu den Fernsehgesprächen von Alexander Kluge mit Heiner Müller
  • Kza Han: Sechs Kometen
  • Herbert Holl: Paulinische Leiblichkeit und proletarische Öffentlichkeit bei Alexander Kluge
  • Christian Schulte: Opern-Stenogramme
  • Henning Burk: Die Wächter des Sarkophags. Interview mit Alexander Kluge
  • Miriam Hansen: Fictional Experts: Role-Play and Authority in Kluge’s Work
  • Klemens Gruber: Avantgarde / Arrièregarde. Alexander Kluges strategisches Vermögen. Drei Hinweise
  • Werner Rappl: Mapping statt Zapping
  • Winfried Siebers: Das Fragezeichen der Poesie. Anekdotisches Erzählen bei Alexander Kluge
  • Claus Philipp: „Godard: – antwortet nicht -„. Verstecken und Suchen mit Kluge, anlässlich der Geschichten vom Kino
  • Joseph Vogl: Kluges Fragen
  • Christian Reder: Insistierendes Interesse an Unmöglichem. Ein Selbstgespräch – mit Alexander Kluge als abwesendem Gegenüber
  • Beata Wiggen: Arbeiten mit Alexander Kluge
  • Kulturmagazine von Alexander Kluge (2000 bis 2007)
  • Die Autorinnen und Autoren